Egon Krenz sprach am 20. Juli 2012
in Suhl auf Einladung der Interessengemeinschaft Geschichte des Stadtvorstands
der LINKEN zum 90. Jahrestag der Ersten Reichskonferenz Kommunistischer
Kindergruppen im Jahre 1922. Wir dokumentieren diese Rede mit seiner freundlichen
Genehmigung.
Liebe Freunde, Genossinnen und
Genossen, meine Damen und Herren,
als ich 1972 als Vorsitzender der
Pionierorganisation Ernst Thälmann an den Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der
ersten Reichskonferenz kommunistischer Kindergruppen teilnahm, wurde am Rathaus
eine Gedenktafel mit folgendem Text enthüllt: „Am 22. 7. 1922 fand im
Oberrathaussaal die erste Reichskonferenz der Kommunistischen Kindergruppen
Deutschlands statt.“
Ein historischer Fakt. Schlicht.
Keine Propaganda.
Gewidmet Kindern, die sich gegen
ihre Ausbeutung wehrten.
Ein Schmuck für Suhl, jene Stadt,
die Gastgeber für 800 Kinder war.
Als ich die Einladung für die
heutige Veranstaltung erhielt, habe ich im Internet recherchiert, was wohl aus
dieser Erinnerungstafel geworden ist? Auf das Stichwort „Erinnerungstafel am
Rathaus Suhl“ meldete mir mein Computer ganz eigenartige Angebote. So zum
Beispiel: „Gedenktafeln ab 29,90 Euro“ oder „Außergewöhnliche Grabmale“ oder
„Grabschmuck aus Eis“, oder „Katzengedenktafel 9,99 Euro“ oder
„Hundegedenkstein 13,99 Euro“.
Ich dachte mir: Typisch für diese
Gesellschaft. Alles wird kommerzialisiert. Ich fand wieder einmal Karl Marx
bestätigt, für den klar war: „Geld verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe
in Haß, den Haß in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den
Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den
Verstand in Blödsinn.“
Trotz all meiner Bemühungen, eine
Auskunft über die gesuchte Gedenktafel am Rathaus Suhl erhielt ich nicht. Inzwischen
sagte man mir, die Tafel passe nicht in das Stadtbild. Sie werde irgendwo
aufbewahrt. Ich habe da meine Zweifel, dass es sich um ästhetische Einwände
handelt.
Wie Vertreter der gegenwärtigen
Macht mit Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung umgehen, machte kürzlich
Minister Ramsauer deutlich. Er will nicht nur das Marx-Engels-Denkmal aus dem
Berliner Stadtzentrum verbannen. Er nannte den Friedhof der Sozialisten in
Friedrichsfelde gar „eine Art sozialistisches Restzentrum“. Eine solch
entwürdigende und respektlose Aussage sagt viel über das staatsoffizielle
Geschichtsbild aus, das Anfang der neunziger Jahre durch einen Bericht einer
Enquetekommission des Deutschen Bundestage von sage und schreibe über 15 000
Seiten verordnet wurde.
Eure Erinnerungsveranstaltung an
die erste Reichskonferenz kommunistischer Kindergruppen ist so etwas wie das
Schwimmen gegen den Strom des Zeitgeistes. Für mich ist sie auch ein wichtiger
Beitrag, die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung wach zu halten und sie
nicht den Geschichtsfälschern zu überlassen. Das trifft auch und besonders auf
die kommunistische Traditionslinie der Arbeiterbewegung zu, die seit 1990 mehr
als alle anderen denunziert wird.
Heute wird wieder der mutigen
Männer gedacht, die am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Hitler wagten. Wer ihrer
gedenkt – und ich tue es, obwohl ich weiß, dass sie vorher den 2. Weltkrieg
mitgemacht haben und nachher ihren Frieden nur mit dem Westen machen wollten –,
wer ihrer gedenkt, weil sie ihr Leben im Kampf gegen Hitler gegeben haben, der
darf aber den kommunistischen und sozialistischen Widerstand nicht aus seiner
Erinnerung streichen.
Und Letzteres geschieht leider
auch dadurch, dass Straßennamen von Antifaschisten getilgt werden,
Erinnerungstafeln in Abstellräumen verschwinden, antifaschistische
Gedenkstätten wie die in Ziegenhals bei Berlin entsorgt wurden und Thälmann,
der nach 11 ½-jähriger Haft von den Nazis ermordet wurde, als Stalinist
diffamiert wird.
Kommunistisch – allein dieses
Adjektiv vor dem Hauptwort Kinderkonferenz macht hierzulande verdächtig.
Schnell ist der unsinnige Vorwurf da, Kommunisten hätten Kinder missbraucht und
sie indoktriniert.
2008 unterzeichnete der Bürger
Gauck die sogenannte Prager Erklärung. Darin wird gefordert, die
Geschichtsbücher so anzupassen und zu überarbeiten, dass die europäischen
Kinder gleichermaßen vor dem Kommunismus wie vor dem „Nationalsozialismus“
gewarnt werden.
Wie die Geschichtsbücher für
Kinder „angepasst“ und „überarbeitet“ werden sollen, das hat kürzlich schon
nicht mehr nur der Bürger Gauck, sondern das deutsche Staatsoberhaupt
angedeutet. Vor Bundeswehrangehörigen sprach er über die ersten 50 Jahre seines
Lebens. Es seien „keine guten Gefühle“ gewesen, konstatierte er, die ihm bei
der Vorbereitung seiner Rede hochgekommen seien. Als jemand, der zur gleichen
Generation gehört wie er und einst auch Rostocker war, kann ich das gut
verstehen.
Die Bombennächte in den
Luftschutzkellern, die Zerstörung der deutschen Städte, einschließlich seiner
Heimatstadt Rostock, die Verbrechen der Nazis im 2. Weltkrieg, die
Judenvernichtung, die Nichterfüllung des Potsdamer Abkommens im Westen, der
Wiederaufstieg von Nazigenerälen beim Aufbau der Bundeswehr und der
bundesdeutschen Nachrichtendienste – das alles löst auch bei mir ungute Gefühle
aus, ja mehr noch: Wut auf die dafür Verantwortlichen.
Doch über solche Dinge hat der
Bundespräsident gar nicht gesprochen.
Seine „unguten Gefühle“ seien
hoch gekommen, verkündete er, als er sich „an die Aufmärsche, an die
Militarisierung der Schulen, an die Erziehung zum Hass, an die Ablehnung eines
Zivildienstes durch Partei und Staat, an die militärische ‚Absicherung’ einer
unmenschlichen Grenze …“ erinnert habe.
Aus seinen Erinnerungen hat er
aber das Wichtigste gestrichen: Die so gescholtene DDR hat nie einen Krieg
geführt, während er einem Staat vorsteht, der sich im Kriegszustand befindet.
Ich gehöre nicht zu denen, die
ein schwarz-weißes Geschichtsbild pflegen. Ich habe mir eine differenzierte
Sicht auf die DDR bewahrt. Ich wehre mich aber dagegen, die DDR schlechter zu
machen als sie war und die Bundesrepublik besser zu reden als sie ist.
Wenn sich der Bundespräsident auf
die ersten fünfzig Jahre seines Lebens besinnt, dann sind dies doch zunächst
die erlebten Nazijahre, dann die sowjetisch besetzte Zone und schließlich die
DDR. Und das alles wirft der erste Mann der Bundesrepublik in einen Topf.
Abgesehen davon, dass allein das
Wort „Nationalsozialismus“ Demagogie ist. Der deutsche Faschismus war weder
national noch war er sozialistisch. Er war so einmalig verbrecherisch, dass er
unvergleichbar ist mit einer Zivilisation, erst recht mit der der DDR. Wer
dennoch ein Gleichheitszeichen setzt, relativiert die Verbrechen der Nazis und
darf sich nicht wundern, dass nach wie vor neonazistisches Gedankengut gedeiht.
Allein der Begriff kommunistisch
reicht hierzulande aus, um Linke mit oder ohne Parteibuch zu diskreditieren. Soll
man deshalb das Wort „Kommunismus“ nicht mehr gebrauchen? Nur deshalb, weil
seine Gegner ihn auf Verbrechen reduzieren?
Auch ich schaue mit Zorn auf Verbrechen,
die unter falscher Flagge im Namen des Kommunismus begangen wurden. Sie
schmerzen. Es ist nicht meine Sache, Opfer gegeneinander aufzuzählen. Wer aber
meint, über Kommunismus könne man nur noch reden, wenn man vorher Buße getan
hat, darf auch beim Gebrauch des Wortes Kapitalismus nicht dessen Verbrechen
vergessen.
Welche Gesellschaftsordnung in
Deutschland ist denn für zwei Weltkriege mit mehr als 80 Millionen Toten
verantwortlich? Wer für Auschwitz? Wer für die nie heilenden Wunden der
Kolonialkriege, wer für die Ausrottung ganzer Völkerschaften, die bis in die
Gegenwart reichen? Wer für die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki? Wer für die
Todesschüsse auf Patrice Lumumba, Martin Luther King, Salvador Allende, Bischof
Romero …? Wer dafür, dass Mandela im rassistischen Gewahrsam auf Robben Island
verbannt war?Wer für die Berufsverbote in der
Bundesrepublik?Wer für die USA-Invasionen von
Vietnam über Grenada, den Irak bis hin zum Krieg in Afghanistan?
Dies und noch viel mehr gediehen
doch nicht auf kommunistischem Boden, sondern in der der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung.
In einer so aufgeheizten
antikommunistischen Stimmung wie sie in dieser Zeit herrscht, erinnert Ihr hier
in Suhl an ein Ereignis kommunistischer Geschichte. Meinen Respekt dafür, vor
allem dem Veranstalter, der Geschichtskommission des Stadtvorstandes der
Linken.
Wenn man sich durchliest, was vor
90 Jahren hier gedacht und gesagt wurde, dann kommt unter dem Strich heraus: Es
ging um das Wohl der Kinder. Sozialisten und Kommunisten lag dies zu allen
Zeiten am Herzen. Wohl auch deshalb hieß es zu DDR-Zeiten, Kinder seien die
einzig privilegierte Klasse. Gerade jetzt in den Sommerferien erinnere ich
daran, dass sich die gewiss nicht reiche DDR 50 Zentrale Pionierlager und
tausende Betriebsferienlager leistete, in denen Hunderttausende Kinder für ein
nur symbolisches Entgelt frohe Ferientage erlebten. Und mit Zorn denke daran,
dass die meisten Kindereinrichtungen der DDR inzwischen privatisiert oder
verkommen sind.
Mir drängt sich ein aktueller Vergleich auf: Hier
in Suhl trafen sich vor einigen Wochen die deutschen Tafeln zu ihrem
Bundestreffen. Hochachtung vor den Frauen und Männern, die in 891 dieser Einrichtungen
an Bedürftige Lebensmittel verteilen, darunter auch an viele Kinder.
Gleichzeitig drückt sich darin
aber auch, ich nenne es für ein so reiches Land wie die Bundesrepublik, eine
Schande aus: Kinderarmut nämlich. UNICEF – das Kinderhilfswerk der Vereinten
Nationen – bescheinigt Deutschland, dass immer noch 1,2 Millionen Kinder in
Armut aufwachsen. Ebenso viele Kinder müssen auf notwendige Dinge wie
beispielsweise auf regelmäßige Mahlzeiten oder Bücher verzichten, weil ihre
Eltern das nicht bezahlen können. Auf diese Weise werden nicht nur die
Grundrechte von Kindern verletzt, sondern auch ihre Zukunft in Frage gestellt.
Zum Abschluss habe ich noch eine
angenehme Aufgabe zu erfüllen.
Ihr wisst, dass die Teilnehmer
der Konferenz vor 90 Jahren ein Solidaritätstelegramm an die Kinder der jungen
Sowjetmacht geschickt haben. Daran hat man sich auch in Moskau im Zusammenhang
mit dem eben begangenen 90. Jahrestag der Pionierorganisation W.I. Lenin
erinnert.
Der Vorsitzende der
Kommunistischen Partei der Russischen Föderation hat deshalb Eurer
Zusammenkunft folgenden Brief geschrieben:
Liebe Genossen,
aufrichtig begrüße ich Sie, die
Teilnehmer der Veranstaltung anlässlich des 90. Jahrestages des Beginns der
organisierten kommunistischen Kinderbewegung in Deutschland. Die Beschlüsse der
ersten Konferenz der deutschen kommunistischen Kindergruppen hatten eine große
historische Bedeutung. Sie legten die Grundlage für die Erziehung der
heranwachsenden Generation im Geiste des proletarischen Internationalismus, der
Freundschaft und Solidarität mit der jungen Sowjetrepublik. Diese Traditionen
der kommunistischen Kinderbewegung sind bis heute lebendig. In unserem Lande
haben wir im Mai 2012 überall den 90. Jahrestag der Pionierorganisation W. I.
Lenin feierlich begangen. An diesem Tag sind Tausende Heranwachsende Pioniere
geworden.
Ich wünsche Ihnen, die ihr Leben
der Erziehung der jungen Generation im Geiste der Freundschaft und des
Internationalismus gewidmet haben, Gesundheit und Erfolg in der Arbeit!
In herzlicher Verbundenheit
G. A. Sjuganow
Vorsitzender des ZK der
Kommunistischen Partei der Russischen Föderation