Montag, 30. Juli 2012

Sozialistische Perspektive für Europa

Karl Heinz Roth beleuchtete am 18. August 2012 im Rahmen der Gedenkfeier zum Todestage Ernst Thälmanns in der Gedenkstätte Ernst Thälmann Perspektiven in der Euro-Krise aus historischer Sicht.

„Deutsche Härte“ nennt Karl Heinz Roth das, was Griechenland im Moment zu spüren bekommt: Spardiktat, Niedriglohnpolitik, sozialer Kahlschlag, Zwangsverwaltung durch EU, IWF und EZB. Was in Deutschland als „alternativloses“ Wirtschaftsprogramm verkauft wird, steht in einer unseligen Tradition: Der deutschen Okkupation während des zweiten Weltkrieges. Damals sah sich Griechenland einer brutalen und rücksichtslosen Ausplünderungspolitik der deutschen Wehrmacht ausgesetzt, die hunderttausende Griechen das Leben kostete. Die Bilanz: Systematische Plünderung griechischer Bodenschätze und Wirtschaftsgüter im Wert von 750 Millionen Reichsmark; Abschöpfung des griechischen Außenhandels und offene Rechnungen über 125 Millionen Reichsmark; Raub von Finanzwerten über 1,75 Milliarden Reichsmark; nicht zu ermittelnde Schäden beim Abzug der deutschen Truppen, deren Politik der „verbrannten Erde“ die griechische Flotte und weite Teile der Infrastruktur des Landes zum Opfer fielen. Dazu: 1600 niedergebrannte Ortschaften, deren Bevölkerung massakriert.
Nach dem Krieg wurde Deutschland zur Zahlung von Reparationen verpflichtet. 7,1 Milliarden Dollar auf der Preisbasis von 1938 sollten die angerichteten Schäden beseitigen. Aber die Gelder sind – bis auf einen Bruchteil – nie geflossen. Weder unter der Herrschaft des Marshallplans, noch in der Zeit der Militärdiktatur, noch unter der PASOK-Regierung wurden die Reparationsleistungen von Griechenland gefordert. Warum? Das ist schwer aufzuklären, meint Karl Heinz Roth. Sicher aber ist: Die Zahlungen, 1946 völkerrechtlich vereinbart, stehen noch heute aus. 

 
Rechnet man die Summe nach heutigen Maßstäben um, so heißt das, das Deutschland Griechenland noch immer 79 Milliarden Euro schuldet. Geld, das Griechenland, dessen Wirtschaft und Gesellschaft nach fünf Jahren Wirtschaftskrise am Rande des Abgrunds stehen, mehr als nötig braucht. Geld, das, so Roth, jene zu zahlen hätten, die vor über 60 Jahren von der Ausplünderung Griechenlands profitierten: Die Bundesbank (als Nachfolgerin der Reichsbank), der Bundesverband der Deutschen Industrie, der Bundesverband Groß- und Außenhandel, ThyssenKrupp, Rheinmetall, Siemens, die großen Baukonzerne, die Deutsche Bank, die Tabak- und Aluminium-Industrie.
Deren Schuld müsse beglichen werden und umgewandelt in ein Rettungsprogramm für Griechenland, fordert Roth. Die unabdingbaren Bestandteile: Ein Schuldenmoratorium und Überführung der Schulden in einen europäischen Tilgungsfonds; Euro-Anleihen der EZB und Demokratisierung der Zentralbank; Reichensteuer und Vermögensabgabe; Egalisierung der Löhne und Lohnstückkosten auf hohem Niveau in ganz Europa; Demokratisierung der EU. Und nicht zuletzt: Ein Konjunkturprogramm im Umfang der deutschen Reparationsschulden an Griechenland, das, soll es erfolgreich sein, 60-80 Milliarden Euro umfassen müsste.
Ein ambitioniertes Programm, und eines, das von unten erkämpft werden muss, meint Roth. Ohne europäische Solidarität der Arbeiter- und Mittelklassen sei das gegen den Widerstand der – vor allem deutschen – Eliten kaum zu erreichen. Gelinge das aber nicht, drohe ein Rückfall in nationalstaatliches Denken, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im deutschen Sozialrassismus („Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!“) und in den nationalistisch tönenden Antworten aus den Krisenländern kündige sich dieses Denken bereits an. Das spricht für eine pessimistische Perspektive. Aber Karl Heinz Roth will es nicht gelten lassen, wenn angebliche Ausweglosigkeit vorgeschoben wird, um eigenes Nichtstun zu verdecken. „Ein entschiedenes Reformprogramm mit sozialistischer Perspektive, das ist meine Hoffnung“, so Roth. Ein Programm, das nicht nur wegen der gegenwärtigen Krise eine Notwendigkeit ist, sondern auch wegen der ungesühnten Verbrechen des deutschen Kapitals in Griechenland.